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Liebe Leserinnen und Leser! Welch schreckliche, barbarische Sprache muss man sprechen, wenn man in oder auf ihr, nur um etwas zu bekommen, vielleicht die Butter vom anderen Tischrand, eine Auszeichnung, ein Bonbon oder ein Kind, gleich einen Krieg beginnen muss. Wer so spricht, muss Erfahrung haben im Krieg führen, muss schon abgebrüht sein, so dass das fortwährende Kriegen für ihn nichts Befremdliches mehr ist. Schon in jungen Jahren muss man wohl Kriegen gespielt haben. Je länger man es vermisst, umso mehr freut man sich darauf, wieder zu kriegen. Bei Bedarf kriegt man andere Leute klein oder kriegt mit ihnen herum, bis man sie herumkriegt, und wenn man alles und noch alles abkriegt, wird das Kriegen sogar doch, ausnahmsweise, irgendwann anstrengend. Aber erst, wenn man sich so richtig schön einkriegt, kommt man endlich einmal zur Ruhe.

Halten wir fest: Auf Deutsch kriegen wir sehr viel und gerne, aber manchmal kriegen wir eindeutig zu viel. Die Etymologie, das heißt, unsere Vorfahren, meinen es mit der Bedeutung eben nicht immer so genau, da ist die Sinneswandlung von »strebend erlangen, erringen« (Duden) oder »sich etwas [...] aneignen« (Wiktionary) zu »bekommen, erhalten« doch marginal. Und überhaupt, das Wort Krieg ist seiner ursprünglichen Meinung nach vielleicht auch nicht mehr als ein Bemühen, ein Streben, und wer will sagen, dass man nicht nach einem süßen Bonbon streben kann? Halten wir also auch fest, dass Wörter wie »bekommen« und »erhalten« doch auch sehr lang und abgehoben sind.

Photonen sind in unendlicher Zahl nicht mehr als dünne Schatten an der Wand. Wir sehen tief. Nicht mehr als ein elektrisches Signal. Wir sehen Tand. Was ist unserer Realitäts Objektiv?

Es gibt unzählige Selbstversuche und Experimente – erinnern Sie sich an den Blinden Fleck? – die uns beweisen, dass das, was wir sehen, eben kein Beweis ist. Trotz des Blinden Flecks, einer Region auf unseren Netzhäuten, auf der es weder Stäbchen noch Zapfen gibt, besteht unser Alltag nicht aus zwei schwarzen Löchern im Raum: Unser Hirn schließt sie in einer heuristischen Dauermeisterleistung, die erst auffliegt, wenn man sie in einem kleinen Versuch herausfordert und Dinge aus unserem Blickfeld verschwinden, die eigentlich da sind, oder: Dinge zu sehen sind, die es gar nicht gibt.

O                                               X

Wenn man Dinge sieht, die es gar nicht gibt, ist man in der Gesellschaft oft kein Leuchtturm der Seriosität. Dass man Dinge, die es gibt, nicht sieht, ist normal. Und wer nur glaubt, was er sieht, ist auch nicht rational. Wenn aus der Bibel zitiert wird, muss man daran glauben, und die Bibel glaubt, dass der Glaube ein Nichtzweifeln (Luther) ist an dem, das man nicht sieht. Andere nennen das Wissenschaft: Ein System der Erkenntnisse (Wikipedia), um das, was wir sehen und nicht sehen, zu erklären.

Wie sieht rot aus? Wir mögen Relativität, auch wenn die allgemeine Relativitätstheorie ziemlich kompliziert ist.

Wir sehen: Schon beim Sehen ist es schwierig, eine absolute Wahrheit zu begründen. Das Sehen macht einen überwältigenden Anteil unserer Sinneseindrücke aus – es sind angeblich rund 80%. Aber das scheint für jeden von uns sehr unterschiedlich, für manchen sind Töne das, was für andere Farben sind, und mancher würde lieber blind als taub. Hunde oder gewisse Frösche wären vielleicht lieber blind als – nun, hier fehlt ein Wort, sagen wir anosmisch, denn die Anosmie ist das Fehlen des Geruchssinns. Jedenfalls, wie sollen wir dann auch gemeinsam mit unseren übrigen Sinnen ein objektives Bild der Realität erhalten? Und wie erst über die abstrakten Dinge unserer Gedanken und Überzeugungen, die wir überhaupt nicht wahrnehmen können?

Als überzeugter Konstruktivist nimmt man die Realität daher nicht wahr, sondern konstruiert mit Sinnen und Geist seine jeweils eigene Realität. Unsere Realität besteht nicht nur aus dem, was wir gerade wahrnehmen, sondern auch dem, was wir zuvor wahrgenommen haben, und aus unserem Selbst, das von seiner ersten Sekunde an mit diesen Wahrnehmungen wächst. Und sowieso fällt für jeden von uns ganz anderes Licht auf ganz andere Netzhäute. Aber selbstverständlich ist niemand überzeugter Konstruktivist, denn wie kann man sicher sein, dass man konstruiert, wenn man selbst konstruiert wird? Nichts ist sicher, man muss daran glauben.

Platons Höhlengleichnis erzählt von starren Höhlenbewohnern, die als Wirklichkeit nur das verschwommene Schattenspiel an ihrer Höhlenwand kennen: Es ist ein Abbild der eigentlichen Wirklichkeit, die sich vor dem sonnenbeschienenen Höhleneingang abspielt. Das Abbild aber wäre eine objektive und zuverlässige, wenn auch weniger »tiefe« Repräsentation der Realität – solange vor der Höhle kein Theater gespielt wird. Man muss daran glauben, und man glaubt, was man kennt.

Je pense, donc je suis.

Wir sind uns offenbar recht einig, dass wir unsere Welt in drei Dimensionen wahrnehmen, oder vier, wenn man die Zeit nicht vergisst. Schon die vierte können wir uns räumlich nicht mehr vorstellen, konstruieren, und gleichzeitig ist die Wissenschaft in Form der Bosonischen Stringtheorie bei der Vermutung angelangt, dass wir in einem Universum mit 26 Dimensionen (einer davon wiederum die Zeit) leben, und dass wir unser Leben eben vor einer solchen Höhlenwand verbringen.

»Ich denke, also bin ich« – laut Descartes müsste man die eigene Existenz als einzig gesichert annehmen (und damit ist nicht der illusorische Körper gemeint). Denn selbst wenn wir in einer Illusion oder Computersimulation leben und nichts sonst tatsächlich existiert, müsste es doch etwas Denkendes im Mittelpunkt geben, um diese scheinbare Welt wahrzunehmen? Oder kann das bewusste Denken virtualisiert werden?

Vielleicht leben wir in einer Matroschka.

Dazu müssten wir erst einmal verstehen, was unser Bewusstsein überhaupt ist, und davon sind wir, nach allem, was wir wissen, weit entfernt. Aber wenn die Virtualisierung selbst nicht in der Lage wäre, das bewusste Denken zu virtualisieren, so ist das Problem nur in die übergeordnete Realität, in der simuliert wird, verschoben. Der Unterschied ist, von einer solchen Simulation sind wir in unserer Realität nicht mehr weit entfernt.

Völlig egal, ob jeder seine Umwelt individuell konstruiert: Solange wir uns in unserer Konstruktion auf gemeinsame Prinzipien geeinigt haben, funktioniert das Leben wie in der Realität.

Wäre unsere Sprache nur aus Erwachsenem erwachsen. Könnte nur niemand die wertvollen Regeln einweichen. Hätten wir unsere Türme nur nicht so hoch gebaut. Wie könnte man ahnden den Umgang den laxen. So würden wir uns endlich doch alle gleichen. Dann hätten wir doch gar keine Guillotine gebraucht.

Niemand, nicht einmal ein Sprachpurist, will die Nase ernsthaft Gesichtserker nennen – die Nase ist schon viel länger deutsch als der Erker, der aus dem Französischen entlehnt wurde.

Wer sich an Ergüssen (die sich wohl auch hier mitunter ergießen werden) wie »Ich gehe Bahnhof«, »Wegen dem Regen«, »Sprechen wir mit Herr Schmitt« und »Wie cool« stört, ist meist in guter Gesellschaft. Sicher ist es wichtig, die deutsche Sprache vor der Verunreinigung – sagen wir Veränderung – durch Migranten, Weltsprachen und nicht zuletzt unsere Jugend zu schützen. Gleichzeitig darf auch die Rechtschreibung keinesfalls verwässert und verwirrt werden (auch nicht, wenn es hernach geregelter zugeht, wie im Falle von ss für kurze Vokale und ß für lange Vokale). Schließlich würde dadurch die wunderbare Sprache und ihre Regeln, wie sie über Jahrhunderte, vielleicht -tausende, gewachsen sind, auf unnatürliche Art und Weise, ja künstlich und kalt verstümmelt.

Nun stellt sich das Problem, dass »wachsen« immer mit Veränderung einhergeht oder sie vielmehr zur Folge hat. Und dass die deutsche wie alle anderen Sprachen gewachsen ist, sich entwickelt hat und nicht eines schönen Wintertages wir plötzlich vor vielleicht gottgegebene, jedenfalls vollendete Tatsachen gestellt wurden und unversehens eine Sprache hatten, liegt für die meisten auf der Hand. Wann aber war dann ihr Geburtstag, und viel wichtiger, wann war – oder wird – der Tag der Volljährigkeit erreicht, ab dem sich die Sprache (wie alle Erwachsenen, offensichtlich) nicht mehr weiterentwickelt und nichts mehr dazulernt? Wann also ist der Tag, an dem die deutsche Sprache vollendet war und ab dem jedes Addendum und jede Veränderung die Sprache nicht bereichern, sondern eher verarmen lassen würden?

Meuchelpuffer (Pistole) ist dagegen ein echter Vorschlag, und die Leidenschaft (Passion) kommt uns heute gar nicht mehr seltsam vor.

Von der indoeuropäischen Ursprache aus sind viele der heutigen europäischen Sprachen abgezweigt und haben sich weiterentwickelt. Was für eine Frechheit, hätten die Leute damals sich doch nur an ihre eigenen Regeln gehalten, dann hätten wir es heute mit der Verständigung einfacher und bräuchten im EU-Parlament nicht einen ganzen Kreis von Dolmetschern. Eine Milliardenklage an unsere Vorfahren tut not.

Die jüngsten Wörter des Jahres.

Über einige tausend Jahre war es nämlich wohl immer so, wie es heute noch ist: Die Kinder und Jugendlichen entwickelten immer wieder aufs Neue ihre ein wenig neue Sprache, die die Eltern und Großeltern ein wenig verquer fanden und missbilligten. Erwachsen (und stehenbleibend, Sie wissen schon) wiederholte sich das ein ums andere Mal, bis am Ende in verschiedenen Regionen Sprachen standen, die schon noch etwas miteinander zu tun hatten, aber eben doch eigene Sprachen oder wenigstens Dialekte waren. Hätte man hier nicht Stopp! (oder Stop, wie war das nochmal?) rufen müssen, als die einzelnen Sprachen genug Eigenheiten hatten, um sich Sprache nennen zu dürfen?

Das erste deutsche Wörterbuch gab es im 18. Jahrhundert, einige Jahrzehnte später kam das Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Die Academié Française war schon ein Jahrhundert früher daran.

Tatsächlich, die Verbreitung der Schrift ermöglichte den Versuch, eine Sprache zu Konservieren und ihre Entwicklung zu verlangsamen oder besser abzustellen. Während die spät geeinte deutsche Sprache dies erst vor kaum mehr als einem Jahrhundert unternahm, gibt es die Académie Française seit dem 17. Jahrhundert. Mancher sagt heute abschätzig, dass man aus französischen Wörtern neunzig Prozent der Buchstaben streichen könnte.

Dabei sind die Laute unserer erwachsenen Sprachen soviel reicher und zahlreicher als die des Latein, dessen Alphabet und Erbe wir verwenden: Um Pünktchen, Strichlein, neue Buchstaben oder eben Buchstabenkombinationen für einen Laut (sprich: Di-, und gerne auch Trigraph) kommt man nicht herum. Wenn man, wie die Académie Française, gleichzeitig etymologische Schätze in den Wörtern sichtbar machen möchte, braucht es dafür einige Buchstaben. Genauso, wenn man die Sprache in ihrer noch lateinischeren Aussprache fixieren will und glaubt, alle wären schon erwachsen.

Wenn unsere Sprachen nach tausenden von Jahren nicht erwachsen und reif waren, wann also fällt die Guillotine, die der Sprache endlich Ruhe und Schutz vor Verstümmelung beschert? Immer vorausgesetzt, dass ihr Korpus dabei nicht verwest oder im Gegenteil bald ungewollt von neuem jungen Leben durchwirkt ist... Wann war oder wird Deutsch endlich Deutsch? Mit der Académie hat sich das gesprochene Französisch vom geschriebenen entfernt, die Schrift ist die Geschichte, die Laute die Gegenwart, gestorben ist nichts. Das Deutsche hatte weniger Zeit, sich von seiner Rechtschreibung zu emanzipieren, die Rechtschreibreformen sind noch weniger eingespielt, doch kaum mehr umstritten (als im Französischen).

Die westgermanischen Sprachen verabschiedeten sich vor etwa 1500 Jahren voneinander.

Typisch deutsch sind Pünktlichkeit, fehlender Humor, Bezahlen in Bar und getrennt, Goethe, Kartoffeln, die Autobahn, Made in Germany und offensichtlich Deutsch. Wann ist die Guillotine für das Deutschsein gefallen? Seit wann kann nichts mehr, das von außen kommt, deutsch werden?

Die Pünktlichkeit kommt von den Preußen, sagt man, der fehlende Humor vom kalten Wetter. Der Deutsche bezahlt so, weil er die Kontrolle schätzt; Goethe kann erst seit 1749 deutsch sein. Kartoffeln wachsen ursprünglich in Südamerika, wie könnten sie wohl deutsch geworden sein? Die erste richtige deutsche Autobahn wurde 1932 in Köln eröffnet. Made in Germany wurde global richtig populär mit dem deutschen Wirtschaftswunder. Und ein geteiltes Deutschland, ist das deutsch? Die deutsche Sprache ist hart, harsch, ohne Melodie, sagt man, spätestens seit Hitler (der, wenn auch nicht deutsch, für die deutsche Geschichte wohl leider doch mehr ist als ein kleiner Schandfleck). Wenn man dem augenzwinkernden Mark Twain Glauben schenkt, ist die Sprache geeignet, um Kinder in den Schlaf zu singen, und besonders geeignet, um über friedliche und freundliche Dinge zu sprechen.

Wir müssen also feststellen, dass die deutsche Guillotine schnell und sauber gearbeitet haben und der entscheidende Schnitt noch frisch sein muss.

Das Projekt
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Bunter Waldwegesrand.

In den grauen, trocknen Städten die Blumen im Tau sich scharen, in der Sommersonne mittags glänzen. Nichts von den natürlichen Abfällen retten, denn sie vergehen langsam und mit den Jahren in einer Symbiose mit Pfaden und Bänken.

Von Zeit zu Zeit fühlt man sich vielleicht bewogen, sich herabzulassen und zu bücken nach einem wunderschön bunten Bonbonpapier am Straßenrand, einigen glänzenden Kronkorken neben einer ruhespendenden Bank oder einer ehemals erfrischenden Caprisonne im Wald, um das Schicksal dieser einsamen und sicher verlorenen Gegenstände zum Guten zu beeinflussen und sie in den nächsten Mülleimer zu werfen.

Es müsste eine Wissenschaft vom Müll geben, genauer vom Verfall des Abfalls, nennen wir sie Dekaderologie. Mithilfe der Dekaderologie wäre es möglich, die bewegte Geschichte eines jeden Taschentuchs am Wegesrand zweifelsfrei festzustellen. Fiel es zu Boden, als der Jogger kurz innehielt, um das Handy aus der Tasche zu holen und den Song zu wechseln? Wurde nach dem Schnäuzen vielleicht befürchtet, dass die übrige Gesellschaft in den Taschen es diskriminieren könnte? Oder blieb jemand schon zehn Meter weiter abrupt stehen, weil ihm schmerzlich der Verlust bewusst wurde, aber doch den unbekannt weiten Rückweg scheute?

Das Wegwerfen eines Taschentuchs kostet 10 - 25 €, je nach Bundesland.

Kurz, es fiel. An einem windigen Tag womöglich in den Graben, an einem regnerischen mitten auf den Weg, wo es schon bald von Gummisohlen in den Boden gestampft wurde, wo es blieb. Ganz selten vielleicht und seltener jedenfalls als dem Bonbonpapier ist ihm vielleicht noch eine kleine Reise vergönnt und findet sich an anderer Stelle als es fiel; doch ein Taschentuch altert schnell, und bald schon sieht es nicht anders aus als das Laub, das im letzten Herbst darauf gefallen ist.

Die Dekaderologie müsste natürlich auch das Alter eines jeden Gegenstandes rekonstruieren können. Die schon ausgefranste und erstarrte Plastikhülle einer Zigarettenschachtel, die mit jedem Jahr, das sie altert, freier wird. Wie lange liegt sie wohl schon dort, und wie viele Leute hat sie gesehen? So frei, dass einer ihrer feinsten Partikel vom nächsten Regenguss, Windstoß oder Schuh in den nächsten Gully oder Bach mitgenommen werden kann, in den nächsten Fluss, Strom und Ozean bringt ihn dann die Schwerkraft. Dabei haben einige Wissenschaftler kürzlich herausgefunden, dass die Mikroplastikbelastung unseres Trinkwassers doch gar nicht so hoch ist wie befürchtet, wegen falscher Messmethoden – mit dem dem bloßen Auge zugänglichen Lichtmikroskop sieht man anscheinend mehr Plastikpartikel, als es laut einem besseren Messverfahren tatsächlich sind.

Es gibt mittlerweile Onlinekarten mit Standorten weggeworfener Taschentücher.

Oder der Hundekotbeutel, der in aller Ehre einige Zeit mit spitzen Fingern mitgenommen wurde und schließlich angesichts nichtpräsenter Mülleimer in den omnipräsenten Mülleimer geworfen wurde. Der Hundekotbeutel, dessen Inhalt schon lange durch ein Loch abtransportiert wurde, wahrscheinlich von einigen Käfern, die vom bezaubernden Duft angetan waren, ist dann auch von aller Last, die ihm vielleicht schwer im Magen lag, befreit und kann sich einfacher wieder auf die Wanderschaft durch die Wälder machen.

Mehr als eine halbe Tonne wirft jeder in Deutschland jedes Jahr weg – in Europa gehört man damit zu den Vorreitern der Müllproduktion.

Dieses Bonbonpapier, wieviel Jahre erspart man ihm und dem Ozean, wenn man es aufhebt? Es könnte noch viele schöne Jahre in der Sonne liegen und leise im Wind rascheln und vielleicht sogar einige Meter weiterfliegen, von einem Dachs als Dekoration in den warmen Bau gebracht werden oder einer Maus als Decke dienen. Es heißt, es dauert einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte, während derer es sich immer weiter aufteilt in immer kleinere Partikel. Vielleicht bis es sich in seine Elementarteilchen aufgespalten hat und dank eines verqueren Gesetzes der Quantenmechanik einfach verschwindet? Wie viel Zeit und wie viele Kalorien verschwendet man, um es zum nächsten Mülleimer mitzunehmen? Besteht nicht die Gefahr, dass man sich an der nächsten Tankstelle dafür ein Eis in Plastik kauft?

Aber es stimmt, ein Teilgebiet der Dekaderologie sollte sich mit der Verteilung von Mülleimern beschäftigen. Hier tun sich Schnittpunkte mit der Mathematik auf, denn es scheint einen Algorithmus zu geben, nachdem die Mülleimer zu jedem Zeitpunkt genau dort nicht aufgestellt sind, wo man sie braucht. Aber klar, Mülleimer sind leider keine Schwarzen Löcher, jemand muss sie leeren, und das zum richtigen Zeitpunkt.

Wohin? Das Bonbonpapier läuft Gefahr, noch eine Weltreise machen zu müssen. China hat sich seit Anfang des Jahres den vielen 100.000 Tonnen Plastik, die jährlich aus Deutschland als Vorreiter in Europa dorthin exportiert wurden, versperrt. Es handelt sich selbstverständlich nicht um Plastikmüll, der aus der EU womöglich gar nicht exportiert werden dürfte, sondern lediglich um wertvolle Rohstoffe. Sie wurden dort selbstverständlich fachgerecht recycelt – manuell von Menschen, und so landet das Bonbonpapier, sollte man sich jemals dazu entscheiden, es vor dem deutschen Bach zu retten, im Falle einer Unachtsamkeit oder Windböe nicht unwahrscheinlicherweise im chinesischen Bach. Falsch – seit Anfang des Jahres im vietnamesischen oder malaysischen.

Die Menschen in Deutschland sind angeblich Mülltrennungsweltmeister. Es wäre nun ein Versuch, das Plastik nicht in den gelben Sack zu werfen, sondern in den Restmüll. Da müsste die Wahrscheinlichkeit höher sein, dass der Müll vielleicht ordnungsgemäß in Deutschland verbrannt und immerhin Strom daraus erzeugt wird. Die einzige Gefahr in dieser Strategie liegt in der Fähigkeit der Ingenieure, immer bessere Müllsortieranlagen zu entwickeln, die immer mehr Müllsorten automatisch mithilfe von Schreddern, Wasser, Luft, Magneten, Infrarot anhand ihrer physikalischen Eigenschaften trennen können. Dann könnte die Recyclingquote – sprich, Exportquote – von Hausmüll weiter ansteigen.

Angeblich wurden aber auch nur sehr geringe Teile des Plastikmülls aus dem gelben Sack nach China verschifft, sondern vor allem schlechter sortierter Plastikmüll. Vom gelben Sack wurde tatsächlich einiges direkt hier recycelt, das meiste verbrannt. Seit Anfang des Jahres natürlich noch umso mehr, denn die Plastikberge wachsen bei den Recyclingunternehmen. Die Entsorgung des Bonbonpapiers direkt im Wald erscheint da als die ökonomischste Alternative.

Morgen- oder Abendrot?

Wie man jeden neuen Tag abends früh aufstehen will, bei eigener Dunkelheit und Licht drehen wir Köpfe um 270 Grad. Früh morgens ist der Wald so still, bald erheben die Stimmen sich.

Sieben bis neun Stunden Schlaf brauchen wir angeblich täglich.

Der Inbegriff der Routine ist der jeden Morgen zur gleichen Zeit, ungeachtet der gefühlten Uhrzeit, des Lichtes draußen und dem Müdigkeitslevel klingelnde Wecker. Am besten montags bis freitags automatisch oder, bei einem älteren Modell oder gar vollends unregelmäßigen Weckzeiten, mit der zusätzlichen Abendroutine des Weckerstellens. Egal wie routiniert, ist für manche von uns das allmorgendliche Aufstehen aber immer wieder ein langwieriges Erlebnis. Und ohne Wecker könnten wir gar nicht mehr Einschlafen, aus Sorge, nie wieder aufzuwachen oder frühestens zu einer Zeit, die den schlimmsten anzunehmenden Fauxpas unausweichlich werden lässt: die Unpünktlichkeit.

Wecker sind, genauso wenig wie Uhren, keine moderne Erfindung. Ein Gefäß, dass sich über die Nacht tröpfelnd mit Wasser füllt und schließlich durch Umkippen oder einen Schwimmer einen Mechanismus in Gang setzt, der störend laut läutet oder pfeift, brauchten wohl schon unsere antiken Vorfahren. Und die mittelalterlichen Mönche rief wohl auch nicht immer ihr Gewissen zum Gebet: Klöster waren lange Zeit Hochburgen des Weckers. Der Wahn der Uhren kam endgültig mit den Fabriken, in denen nicht mehr jeder dann aufs Feld gehen konnte, wann er eben aufwachte oder wollte.

Wenn man mitten in der Nacht aufstehen muss, wird das mit der inneren Uhr vielleicht nichts. Aber wieso gelingt es uns oft nicht einmal zuverlässig, morgens zur üblichen Zeit aufzustehen? Wir haben uns hinter vielschichtige Fenster und beneidenswerte Jalousien zurückgezogen, von der Sonne und dem Vogelgezwitscher entfernt. Wir hängen zu sehr an den Zeigern und am nächtlichen Ticken unserer Uhren. Manch einer schläft nicht mehr im Schlafzimmer, sondern im Weckerwald der Notfall- und Gleichgültigkeitswecker. Um größte anzunehmende Unfälle zu vermeiden, ist Redundanz bekanntlich ein probates Mittel, das man nur anzuwenden wissen muss.

Sofern noch ein Baum vor dem Fenster steht, wissen die Vögel wirklich ganz genau, wie viel Uhr es ist, zumindest auf der Sonnenuhr. Der NABU hat eine Vogeluhr veröffentlicht, denn jede Vogelart hat ihren ganz eigenen Zeitpunkt vor dem Sonnenaufgang, an dem sie beginnt, zu singen: Der Gartenrotschwanz als erstes, 80 Minuten vor dem Aufgang, es ist noch dunkel. Der Buchfink als letztes, gerade 10 Minuten vorher. Die Amsel, unser Paradevogel, in der goldenen Mitte. Wenn wir auch wieder beginnen würden, unsere Uhren nach der Sonne zu stellen, würden wir davon vielleicht mehr mitbekommen. Und im Winter nicht mehr mitten in der Nacht aufstehen (dafür mitten in der Nacht nach Hause kommen). Aber die Gemeinschaft der Frühaufsteher schätzt das Vogelzwitschern und die menschliche Ruhe auf den leeren Straßen; das Letzte, was wir wollen, ist diese kühlen Sommermorgen auch noch zu bevölkern.

Vielleicht leiden wir auch alle unter chronischem Schlafmangel. Früher gab es nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr viel zu tun. Da stolperte man lieber mit der Kerze in der Hand schnell ins Bett. Im Winter hätte man dann fast 14 Stunden schlafen können, bis der Hahn krähte.

So gesehen von Voyager 2 Anfang 1986. NASA/JPL-Caltech (Public Domain)

Große Murmeln matt und klein, manche haben kein Gesicht. Sieht man nicht wie sie drehen in dem schwärzesten Samtsack. Direkt durch sie scheint das Licht, lässt das Innere sehen.

Uranos ist der Himmel, geboren durch die Erde selbst: So meint es die griechische Mythologie. Im weiten Himmel, weit weg vom Sonnenlicht und lange nicht gesehen ist Uranus, der Planet unseres Sonnensystems, der mit der Erde wenig gemein hat. Als Engländer ist man mit seinem Namen wenig glücklich, denn eigentlich sollte der Himmelskörper einmal nach Georg III., König von England, benannt werden. Und je nach dem, wie man Uranus ausspricht, klingt der Name auf Englisch auch nicht allzu himmlisch. Aber ihren Namen und ihren Status als vollwertiger Planet tangieren diese kugelförmigen Körper in unserem Sonnensystem mit ihrer Umlaufbahn gar nicht. Uranus wirkt auf den ersten Blick sowieso sehr gleichgültig, kein Mondgesicht, keine Wolkenbänder wie Saturn, kein hundertjähriger Sturm wie auf Jupiter, schon gar kein Ozean und Kontinent; auf der Aufnahme von Voyager 2 von vor über 30 Jahren sieht er aus, als wäre er ohne Textur und nur mit Sonnenlampe gerendert.

Das Konzept des Nordpols eines Planeten erscheint auf der einen Seite trivial. Auf der anderen Seite ist der Nordpol der Erde ja eigentlich ein Südpol, weil der Nordpol der Kompassnadel immer zum magnetischen Südpol zeigt – Gegensätze ziehen sich an. Und dass Norden immer oben ist, gilt auch nur so lange, bis die Erde sich wieder einmal dazu entscheidet, sich umzupolen, oder wir uns entscheiden, der Fairness halber die südlichen Länder auch einmal obenauf sein zu lassen und die Karte umzudrehen. Uranus hat sich daher entschieden, seine Rotationsachse im Gegensatz zu allen anderen Planeten des Sonnensystems quer zu legen und den Nordpol somit weder nach oben noch unten zeigen zu lassen. Ob diese Entscheidung freiwillig war oder durch unsanften Kontakt mit einem grobschlächtigen Querschläger aus dem Sonnensystem hervorgerufen wurde, ist nicht sicher. Tage und Jahreszeiten sind jedenfalls somit für die Bewohner von Uranus so ziemlich das Gleiche: Gerade im Moment wird es auf der Nordhalbkugel Sommer, das heißt, die Sonne scheint dort für ein halbes Jahr. Auf der Südhalbkugel dagegen wird es jetzt kalt und dunkel, bis Uranus seine nächste Sonnenumrundung beginnt. Die Umrundung und also ein Jahr dauern übrigens 84 Erdenjahre, ein langer Winter also.

Uranus ist ungefähr 20 Astronomische Einheiten von der Sonne entfernt. Das heißt, er ist ungefähr 20 Mal weiter von ihr entfernt als die Erde.

Welchen Durchmesser hat Uranus? Wenn man in die Atmosphäre und langsam unter die blauen Schichten aus Wasserstoff, Helium und Methan sinkt, die einen zunehmend dicht umgeben, gibt es keinen wirklichen Zeitpunkt, an dem man festen Boden unter den Füßen hat. Die wabernden Wolken lasten immer schwerer und sind schließlich mehr flüssig als gasförmig, bei den Minustemperaturen, die dort herrschen, ist sicher auch Gefrorenes dabei. Die unmerkliche Oberfläche ist daher definitionsgemäß dort, wo der Druck, wie auf der Erdoberfläche, 1 bar beträgt. Weiter unten hat es angenehme Zimmertemperatur, aber auch drückende mehrere dutzend Bar.

So könnten die Spektrallinien unserer Sonne aussehen. Bearbeitet; G. Wiora, Kes47 (CC-BY-SA/2.5)

Aber bisher hat niemand von uns diese Reise durch die Schichten des Uranus angetreten, und nichts von uns außer einigen Radiowellen, die Voyager 2 in unserem Namen auf die Reise brachte. Mit dieser elektromagnetischen Strahlung, die die Sonde zum Beispiel aussendete, als sie sich von der Erde aus gesehen direkt hinter dem Planeten befand, lässt sich die Masse desselben feststellen. Denn obwohl masselos, wird die elektromagnetische Strahlung doch von der Gravitation, aber auch von der Atmosphäre, beeinflusst und abgelenkt. Wie schon beim Schwarzen Loch verändert sich auch die Wellenlänge, wenn die Sonde im Gravitationsfeld eines massereichen Körpers wandelt, die Zeit für sie langsamer vergeht oder sich ihre Geschwindigkeit verändert und sie somit dank der Relativitätstheorie und des Dopplereffekts aus unserer Sicht seltener oder häufiger Wellenberge, d.h. Strahlung einer niedrigeren oder höheren Frequenz aussendet. Ohne diese Beeinflussung wären die ätherischen Fotos von Uranus, die mit genau diesen Radiowellen übertragen wurden, vielleicht ganz anders bei uns angekommen... Allerdings mussten wir die Masse von Uranus und den anderen Planeten, die Voyager 2 besuchte, auch vorher schon ziemlich genau kennen, denn sonst wäre die Sonde wohl in einem oder weit an einem Planeten vorbei geendet, und wir hätten gar keine Fotos und Daten.

Uranus ist am Äquator mehr als vier Mal breiter als die Erde.

Aus der errechneten Masse und der sichtbaren Größe ergibt sich die Dichte des Planeten, die Aufschluss über die Zusammensetzung geben kann. So geht man bei Uranus als typischen Gasplaneten davon aus, dass er höchstens einen vergleichsweise kleinen Gesteinskern im Herzen hat, und sonst aus leichterem Wasser, Ammoniak, und Ähnlichen besteht. Die Eigenschaften speziell der Atmosphäre lassen sich mit mehreren Spektrometern an Bord von Voyager 2 bestimmen.

Rückblick durch die Atmosphäre. NASA/JPL-Caltech (Public Domain)

Jedes Element wie zum Beispiel Wasserstoff und Helium emittiert, wenn es angeregt wird, Licht einer ganz bestimmten Wellenlänge und absorbiert auf der anderen Seite genau diese Wellenlänge, wenn zum Beispiel weißes Licht, also Licht aller Wellenlängen wild durcheinander, durch eine Gaswolke hindurchscheint. Optische Spektrometer, die genau diese fehlenden oder hinzukommenden Wellenlängen messbar machen, sind in der Astronomie deshalb sehr praktisch. Denn Licht begibt sich ganz von selbst auf Wanderschaft und tat das auch schon, bevor wir es dazu aufgefordert haben. Heute müssen wir unsere Sonden deshalb nicht erst zu fernen Sternen, Planeten und Nebeln senden und einige Milliarden Jahre warten, sondern das Licht kommt ausgerechnet in dieser Sekunde bei uns an, fertig zur Analyse.

Auch Uranus hat Ringe, auch wenn sie nicht so bekannt sind wie Saturns. Sie sind ebenso gekippt wie die Uranusachse.

Ein näherer Blick kann trotzdem nie schaden. Zwar kann man auch von der Erde aus das Licht analysieren, das der Planet von der Sonne kommend reflektiert, aber wenn man wie Voyager 2 auch hinter die Nachtseite von Uranus fliegt, kann man dort das Licht beobachten, das wie beim irdischen Sonnenuntergang direkt durch verschiedene Schichten der Atmosphäre scheint und die wichtigsten Bestandteile der Atmosphäre durch ihre charakteristischen Spektrallinien, sprich absorbierten Wellenlängen sichtbar macht. Ohne störendes Sonnenlicht kann man auch das Nachthimmelsleuchten untersuchen – die weniger spektakuläre Version der Polarlichter (die es auf Uranus übrigens auch gibt). Die Gasatome der Atmosphäre werden tagsüber durch die elektromagnetische Strahlung der Sonne angeregt und glühen nachts noch eine ganze Weile nach, wiederum in ihrer persönlichen Wellenlänge, aus der man also auf die Elemente und damit auf die Zusammensetzung der blauen Wolken schließen kann. Auf der Erde ist dieses Phänomen noch viel stärker, aber doch nicht stark genug, um gegen das nächtliche Nachglühen unserer Zivilisation anzukommen.

Aus dem Vorkommen der Gase und ihrer Dichte lässt sich auf die Temperatur schließen. Denn bei gegebener Dichte, die sich aus der Spektroskopie ableiten lässt, und bekanntem Druck, der sich aus der Höhe der Atmosphäre ergibt, hat ein Gas zwangsweise eine bestimmte Temperatur. Zusätzlich könnte man sich wiederum einen mikroskopischen Dopplereffekt zu Nutze machen: Umso höher die Temperatur, umso aufgeregter bewegen sich die Teilchen in der Atmosphäre – Temperatur ist ja eigentlich ein Maß für die kinetische Energie der Gasteilchen. Je nach dem, wie stark sich die einzelnen Teilchen in unterschiedliche Richtungen bewegen, erscheinen ihre Spektrallinien für einen Beobachter aus einer Richtung aber wegen des Doppler-Effekts leicht verschoben. Die Spektrallinien werden also breiter und unschärfer, umso heißer es ist.

Im praktisch endlosen, leeren Raum, wo Voyager 2 jetzt weit von Uranus entfernt fliegt, haben die Instrumente der Sonde nicht mehr viel zu untersuchen. Die Spektrometer sind mittlerweile deaktiviert und verstummt. Die einzige Devise ist, Energie zu sparen und sich treiben zu lassen bis jenseits der Grenzen des Sonnensystems.